Kurze Geschichte der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie


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Nach einer langen Vorgeschichte, die sich bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen läßt, wurde die Psychiatrische Universitätsklinik Tübingen im November 1894 eröffnet. An den Initiativen, die schließlich zum Aufbau der Klinik führten, hatte Wilhelm Griesinger (1817-1868) wesentlichen Anteil. Er begann als Direktor der Medizinischen Klinik in Tübingen 1845 nach einer längeren Pause mit Vorlesungen über Psychiatrie. Der erste Direktor der neugegründeten Klinik war von 1893 bis 1901 Ernst Siemerling (1857-1931). Siemerling widmete sich besonders der pathologisch-anatomischen Betrachtung der Nervenkrankheiten, der Beschreibung von Krankheitsbildern und forensisch-psychiatrischen Problemen. Nach seinem Ruf nach Kiel wurde von 1901 bis 1906 Robert Wollenberg (1862-1942) Direktor der Nervenklinik. Sowohl er als auch Siemerling waren Schüler von K. F. O. Westphal . Wollenberg wurde durch seine klinischen Darstellungen besonders über die Melancholie und Hypochondrie bekannt. 1906 folgte er einem Ruf an die Universität Straßburg. Sein Nachfolger in Tübingen wurde Robert Gaupp (1870-1953). Er leitete die Klinik von 1906 bis 1936 und war eine der prägenden Figuren der deutschen Psychiatrie. Gaupp hatte in Breslau bei Carl Wernicke zusammen mit Karl Bonhoeffer gearbeitet und war bei Emil Kraepelin in Heidelberg und München gewesen. Er hatte 1902 in einem Vortrag Grenzen der psychiatrischen Erkenntnis zu fassen versucht und dabei den Satz vertreten: Nicht eine Ursache, sondern mehrere schaffen erst die Geisteskrankheit. Aufgrund seiner Tätigkeit als Lazarettarzt beschäftigte er sich mit dem Problem der traumatischen Neurosen, die er im Gegensatz zu Oppenheim und anderen Psychiatern als Folgen einer Commotio cerebri ablehnte und in ihnen rein psychogene Störungen sah. Mit der jahrzehntelangen Beobachtung und Beschreibung der Krankheit des Hauptlehrers Wagner , für die er berühmt wurde, begründete Gaupp die dynamische Betrachtungsweise in der Psychiatrie, indem er Persönlichkeit, Erlebnis und Erkrankung bei der Entwicklung des Wahns beschrieb. Unter Gaupp konnte nach einer behelfsmäßigen Vorstufe im Klinikbau 1920 die Kinderabteilung der Nervenklinik eröffnet werden, die unter ihrem ersten Leiter Werner Villinger auch ihre erste Blüte erlebte.

Von 1936 bis 1944 war Hermann F. Hoffmann (1891-1944), ein Schüler Gaupps , Direktor der Nervenklinik. Seine Nachkommensuntersuchung war die erste, die sich systematisch mit der Deszendenz der endogenen Psychosen befasste. Ihn beschäftigten die Beziehungen zwischen Erbanlage und Persönlichkeit, Anlage und Lebenskurve, Charakter und Umwelt. Er führte die dynamische Betrachtungsweise Gaupps fort und suchte nach der Möglichkeit einer verstehenden Psychiatrie auf biologischer Grundlage. Hoffmann war 1933 der NSDAP beigetreten und wurde 1937 zum Rektor der Tübinger Universität ernannt. Als "Rektor in SA-Uniform" war er einer der exponierten Nationalsozialisten der Universität. Entgegen dem nationalsozialistischen Sterilisationsgesetz sah Hoffmann bei den affektiven Psychosen keine Sterilisationsindikation, bei den sogenannten asozialen Psychopathen plädierte er jedoch energisch für eine Überschreitung des rechtlich gesteckten Rahmens. An den sog. "Euthansieaktionen" im Dritten Reich war die Klinik, soweit bekannt, nicht beteiligt.

Nach dem Tode Hoffmanns führte Wilhelm Ederle bis 1945 die Klinik und die darin eingerichtete Lazarettabteilung. Ederle hatte 1936 die Sakelsche Insulinbehandlung nach Tübingen gebracht. Die Heilkrampftherapie wurde eingeführt, ein serologisches Laboratorium wurde eingerichtet und die neurologische Tätigkeit stärker entwickelt. Die vor dem Kriege errichtete eigene Röntgenabteilung ermöglichte nun die enzephalographische und angiographische Neurodiagnostik. Ende Februar 1945 übernahm Werner Villinger (1887-1961) vorübergehend die Leitung der Klinik. Er ging 1946 nach Marburg und tauschte mit Ernst Kretschmer (1888-1964), der in Tübingen schon unter Gaupp gearbeitet hatte. Kretschmer war von 1946 bis 1960 Direktor der Nervenklinik. Er hatte die dynamischen Ansätze der Psychiatrie unter Gaupp übernommen und in seiner Arbeit über "Wahnbildung und manisch-depressiver Symptomkomplex" und vor allem in der Herausarbeitung des sensitiven Beziehungswahns weiterentwickelt. Er führte zum ersten Mal den Begriff der mehrdimensionalen Diagnostik in die Psychiatrie ein. Seine systematische Synthese von physischer Konstitutionslehre und Charakterkunde machte ihn auch breiten Bevölkerungsschichten bekannt und eröffnete neue Aspekte in der Medizin, Psychologie und Anthropologie. 1921 erschien "Körperbau und Charakter" (26. Auflage 1977), 1922 "Die medizinische Psychologie", 1923 "Die Hysterie", 1929 "Geniale Menschen" und 1949 "Psychotherapeutische Studien".

Von 1960 bis 1972 leitete Walter Schulte (1910-1972) die Nervenklinik. Er war Schüler von Hans Berger in Jena, dem Erfinder des EEGs. Er hatte in Bethel gearbeitet und als Direktor die Landesheil- und Krankenanstalt Gütersloh geleitet. Die Erfahrungen dort schlugen sich in seinem Buch "Klinik der Anstaltspsychiatrie" (1962) nieder. Schulte entdeckte als erster die antidepressive Wirkung von Schlafentzügen und führte sie systematisch in die Depressionsbehandlung ein. Er vertrat eine enge Verbindung von Neurologie und Psychiatrie und legte dementsprechend großen Wert auf das Vorhandensein zweier neurologischer Stationen innerhalb der Klinik. Neben Veröffentlichungen aus dem neuropsychiatrischen Grenzbereich (u. a. über die synkopalen Anfälle, Gründung des "Almanach für Neurologie und Psychiatrie") befaßte er sich mit der persönlichen Beziehung und ihrer Wirkung zwischen Arzt und Patient, Problemen der endogenen Psychosen - insbesondere der Melancholie - und der Gerontopsychiatrie. Sein zusammen mit Rainer Tölle verfasstes Lehrbuch "Psychiatrie" erschien erstmals 1971 und liegt nun schon in der 10. Auflage vor. Die Klinikstrukturen differenzierten sich in der Zwischenzeit weiter aus. Im Januar 1972 wurde die Tagesklinik eröffnet, die in Deutschland eine Pilotfunktion innehatte.

1966 wurde das Klinische Jugendheim als Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie unter seinem Leiter Reinhart Lempp , der bei Kretschmer gearbeitet hatte, selbständig. Lempp beschäftigte sich mit der Bedeutung der frühkindlichen Hirnschädigung als Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung psychischer Störungen, mit den Psychosen des Kindes- und Jugendalters einschließlich ihrer Psychotherapie und mit forensisch-psychiatrischen Fragen. Die Nachfolge Lempps übernahm 1990 Gunter Klosinski . Klosinski war bis 1986 Oberarzt im Klinischen Jugendheim und hatte dann einen Ruf nach Bern auf den Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie angenommen. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung von Sekten und Jugendreligionen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht, daneben mit familiendynamischen Problemen und Fragen eines nach Altersgruppen differenzierten psychotherapeutischen Zugangs zu Kindern und Jugendlichen.

1967 entstand als erster deutscher Lehrstuhl dieser Art die Abteilung für Psychoanalyse, Psychotherapie und Psychosomatik unter der Leitung von Wolfgang Loch (1915-1995). Loch hatte vorher bei Alexander Mitscherlich in Heidelberg und Frankfurt gearbeitet und ist von Michael Balint beeinflußt, seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der psychoanalytischen Theorie und der Krankheitslehre ("Die Krankheitslehre der Psychoanalyse", 5. Auflage 1989). Loch war eine der überragenden Persönlichkeiten in der Psychoanalyse in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Nach ihm übernahm Heinz Henseler den Lehrstuhl. Er kam von Ulm und beschäftigt sich neben methodischen Fragen vor allem mit dem Problem des Suizids aus psychoanalytischer Sicht ("Narzißtische Krisen", 2. Auflage 1984).

Nach Schultes plötzlichem Tod leitete Lempp von 1972 bis 1974 kommissarisch die Klinik. Er übergab die Leitung 1974 an Hans Heimann . Heimann arbeitete unter Jakob Klaesi und Max Müller an der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern (Waldau) und habilitierte sich 1953 mit der Monographie "Die Skopolaminwirkung. Vergleichend psychopathologisch- elektroenzephalographische Untersuchungen". Von 1964 bis 1974 war er Leiter der Forschungsabteilung für Psychopathologie der Psychiatrischen Universitätsklinik Lausanne. Neben seinen psychopathologischen und psychophysiologischen Forschungen erstrecken sich seine Arbeiten auf Bereiche der Psychopharmakologie, Grenzgebiete der Psychiatrie zur Philosophie und Religion und Fragen der Forschungsmethodik in der Psychiatrie. Von Ludwig Binswanger beeinflußt ist ihm die daseinsanalytische Betrachtung als Gegengewicht zur naturwissenschaftlichen Objektivität der neurobiologischen Forschung wichtig. Heimann setzte mit neuen Akzenten die Tradition der mehrdimensionalen Betrachtungsweise an der Klinik fort.

1979 wurde in der Klinik eine Sektion für Neurophysiologie eingerichtet, deren Leiter Mathias Bartels ist. Seit 1975 können auf einer spezialisierten Station alkoholkranke Patienten in einem Sechswochenprogramm mit anschließender ambulanter Nachbetreuung behandelt werden. Daneben existiert seit 1990 eine geschlossene Suchtstation, auf der eine qualifizierte Entgiftung (mit Motivationstherapie) durchgeführt wird. Um dem Bedürfnis nach längerfristigen Therapiemöglichkeiten für chronisch kranke oder von Chronifizierung bedrohte Patienten Rechnung zu tragen, wurde 1975 die Nachsorgeklinik mit 16 Plätzen gegründet. Die Nachsorgeklinik wird von einem eigenen Verein getragen, steht aber durch einen Kooperationsvertrag personell in enger Verbindung mit der Psychiatrischen Klinik. Es handelt sich um eine medizinische Rehabilitationseinrichtung, in der überwiegend jüngere, z. T. schwergestörte Patienten im Rahmen eines mehrdimensionalen Therapieprogramms behandelt werden. 1988 erhielt die Klinik eine eigene Sektion für forensische Psychiatrie, deren Leiter Klaus Foerster ist. Foersters wissenschaftliche Schwerpunkte sind Begutachtungsprobleme bei Rentenneurotikern, Diagnose und Quantifizierung von Persönlichkeitsstörungen, Erfassung sog. "Affekttaten" und die Psychotherapie bei Straftätern.

Nach der Emeritierung Heimanns übernahm am 1. Oktober 1990 Gerhard Buchkremer die Leitung der Klinik. Buchkremer war Assistent und Oberarzt bei Tölle in Münster und hatte sich 1984 mit einer Arbeit über "Rezidivprophylaxe bei schizophrenen Patienten" habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen außerdem sprachanalytische Studien zum Kommunikationsstil in Familien mit schizophrenen Patienten und therapeutische Möglichkeiten der Raucherentwöhnung.

1995 wurde neueren Entwicklungen Rechnung tragend die Klinik umbenannt in Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Diese besteht heute aus den Abteilungen

  1. Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie mit Poliklinik, Sektion für Neurophysiologie und Sektion für forensische Psychiatrie und Psychotherapie
  2. Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter mit Poliklinik
  3. Psychosomatik, Psychoanalyse und Psychotherapie

Zur Abteilung Allgemeine Psychiatrie gehören zehn psychiatrische Stationen (darunter zwei beschützende ("geschlossene") Stationen, eine gerontopsychiatrische Spezialstation, eine Entgiftungsstation, eine spezialisierte Psychotherapiestation für Patienten mit Alkoholproblemen) mit insgesamt 141 Betten, die Poliklinik, eine Tagesklinik für ältere Menschen und die allgemeine Tagesklinik mit jeweils 20 Behandlungsplätzen. 1996 wurde die Teilrenovierung der Klinik im wesentlichen abgeschlossen. Für den diagnostischen und wissenschaftlichen Bereich sind von Bedeutung die Sektion Neurophysiologie mit EEG, EMG, Brain mapping und Dopplersonographie, die klinische Psychologie und ein klinisch-chemisches Laboratorium. Überwiegend wissenschaftlichen Zwecken dient das psychopharmakologische und psychophysiologische Labor (mit Schlaflabor). Die therapeutischen Möglichkeiten schließen neben der Pharmako- und Psychotherapie die Bewegungs-, Beschäftigungs- und physikalische Therapie mit ein. Der Sozialdienst mit derzeit vier Mitarbeitern übernimmt eine wichtige Funktion bei der Regelung sozialer Fragen und in der Soziotherapie. Zur Klinik gehörende Werkstätten (Mechanikerwerkstatt, Gärtnerei, Schreinerei) und ein Sportplatz können ebenfalls zu therapeutischen Maßnahmen herangezogen werden.

1996 überarbeitet und ergänzt von M. Leonhardt und M. Bartels.
Mitteilungen und Anfragen (kppinfo@uni-tuebingen.de)

Idee und Gestaltung: Dr.Anil Batra(anil.batra@uni-tuebingen.de) , Dr. TiloKircher(tilo.kircher@uni-tuebingen.de) , Prof. Dr. Mathias Bartels
(mathias.bartels@uni-tuebingen.de) Zuletzt geändert am 28. Juli 1997 von Dr. A. Batra